Longo Mai in Costa Rica gestaltet sich völlig anders als die Kooperativen, die ich von Frankreich kenne. Der erste und augenscheinlichste Unterschied ist, dass die Menschen hier sehr freundlich sind, gerne mit einem reden und mensch gleich das Gefühl hat, hier willkommen zu sein. Ich will nicht ungerecht gegenüber den Longo MaianerInnen in Frankreich sein, denn erstens liegen meine Erfahrungen damit bekanntlich 14 Jahre zurück, manches mag sich auch dort verändert haben und zweitens gibt es ein wesentliches Merkmal, dass den oben angeführten Unterschied teilweise erklären mag. In Costa Rica bezahlt mensch für seine Unterkunft, in Frankreich heißt es Kost und Logis gegen Arbeitszeit. Da jedoch alles auf Freiwilligkeit beruht, obliegt es jeder/m selber, ob und wie viel mensch zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt. Des weiteren war das Touriaufkommen zu meiner Zeit enorm hoch und es gab ein ständiges Kommen und Gehen, was die BewohnerInnen offensichtlich (und teilweise nachvollziehbar) gestört hat. Nichts desto trotz, wäre es dann meiner Meinung nach sinnvoller, das System zu ändern, als interessierten SchnuppererInnen die kalte Schulter zu zeigen und sie so zu vertreiben.

Bei der Finca Sonador, wie die Gemeinschaft auch genannt wird, ist das von vorneherein geklärt. Pro Person bezahlt mensch 8.000 Colones (16 Dollar) pro Nacht inklusive Verpflegung. Ab einem zweiwöchigen Aufenthalt sind es nur mehr 6.000 Colones (12 Dollar). Die Unterkünfte sind einfachst. Dafür hat mensch hier familiären Anschluss, kann sich in die Projekte und aktuellen Geschehnisse einbringen, muss aber auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn einem einfach danach ist, sich mit einem Buch in eine Hängematte zurück zu ziehen. Statt einem Pool, gibt es idyllische Badeplätze am Rio Sonador oder am Rio Convento, welche die Wasseradern sind, die Longo Mai umschließen.

Derzeit ist das Thema Wasserkraftwerk gerade hoch aktuell. Seit Inkrafttreten des zentralamerikanischen Freihandelsabkommens mit den USA (CAFTA bzw. TLC, Central American Free Trade Agreement bzw. Tratado de Libre Comercio), das vor ein paar Jahren beschlossen wurde und dem sich Costa Rica am längsten widersetzt, letztlich aber doch unterzeichnet hat, schreitet die Privatisierung von staatlichen Betrieben und Märkten (beinahe) unaufhaltsam voran. Das geplante Speicherkraftwerk ist nur eines von vielen Beispielen, aber für die Finca Sonador momentan wohl das dringlichste. Zu diesem Anlass fand vergangenen Sonntag eine Versammlung statt, zu der Gäste aus der nördlichen Region Costa Ricas eingeladen waren, in deren Gebiet bereits mehrere dieser Wasserkraftprojekte verwirklicht wurden. In der Diskussion stellte sich heraus, dass Costa Rica keineswegs an Stromknappheit leidet – im Gegenteil, es wird um ein Vielfaches mehr Strom erzeugt, als verbraucht wird, was das leidige Argument von wegen jede/r will doch Licht, Handy, Computer usw. zum einen entkräftet. Zum anderen wurde aber sehr wohl deutlich darauf hingewiesen, dass sich jede/r Gedanken über die Menge und die tatsächliche Notwendigkeit elektrischer Gebrauchsgegenstände machen muss. Das ganze war – obwohl natürlich in spanisch – sehr informativ und hat wieder mal meine Sinne geschärft Wasserkraft, nur weil es besser ist, als Atomkraft, nicht automatisch gut zu heißen. Der erzeugte Strom würde – wie wir das leider auch von Österreich kennen – nicht für die hiesige Bevölkerung verwendet, sondern großteils exportiert. Eine der fatalsten und sehr wahrscheinlichen Auswirkungen wäre außerdem die Austrocknung des Flusses – gerade in einer Gegend, wo es in der Trockenzeit monatelang keinen Regen gibt, eine ökologische Katastrophe.

Da ich schon mal dabei bin, möchte ich euch an dieser Stelle darauf hinweisen, dass bereits seit 2007 Verhandlungen zwischen der EU und Zentralamerika bezüglich einem Assoziierungsabkommen zwischen den beteiligten Staaten laufen, die demnächst zu einem endgültigen Abschluss kommen könnten. Nachdem ich angefangen haben, mich ein bißchen mit dieser Thematik zu beschäftigen, kann ich dazu sagen, dass ich mich dabei mehrfach innerlich übergeben musste. Kolonialisierung, die nächste Stufe! Die moderne Form der Ausbeutung! Meiner Meinung nach, gut zusammengefasst von William Rodriguez, Aktivist im nicaraguanischen Netzwerk Movimiento Social Nicaragüense Otro Mundo es Posible und im Widerstandsnetzwerk Alianza Social Continental:

„Für die EU‑Länder würde es einen ungehinderten Zugang zu den Rohstoffen und Märkten unserer Länder, sowie bessere Niederlassungsrechte für ihre Unternehmen bedeuten. Dadurch würden unsere eigenen Produkte vom Markt verdrängt und die lokale Ökonomie geschwächt. Eine höhere Arbeitslosigkeit und eine weitere Verarmung für große Teile der Bevölkerung, sowohl in den Städten als auch auf dem Land wären die Folge. Dadurch würde wiederum die Migration erhöht. Diese negativen Folgen konnten wir schon beim CAFTA-Vertrag mit den USA feststellen. Das Abkommen mit der EU würde die Migration nur noch verschärfen.“ (www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/3672.html, Infos auch unter: http://www.stop-assoziierung.de/)

Mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass auch das hohe Aufkommen von amerikanischen Fast-Foodketten und üppigen Malls mit o.g. Freihandelsabkommen in direktem Zusammenhang steht. El Salvador war das erste Land, in dem CAFTA zum tragen kam (2006) und die Hauptstadt ist überschwemmt von Pizza Hut, Wendys, KFC, Burger King, Mc Donalds und Co.

Jetzt bin ich ein wenig abgeschweift, aber das muss ja auch mal geschrieben werden! Nichts desto trotz, noch ein Auszug meiner persönlichen Erlebnisse auf der Finca Sonador.

Wir wohnen bei Dona Edith und ihrer Familie, Don Domingo, ihr Ehemann, Sara, ihre Tochter und Nena, ihre Schwester, die gerade zu Besuch ist und ansonsten in El Salvador lebt. Außerdem gibt’s hier Hunde, Katzen, Pferde, Hühner und die Haussau – schon bekannt aus dem Bericht meines companeros. Ich verbringe meine Tage damit, dass ich z.B. um 6:00 aufstehe und Maritza beim Bohnenpflanzen im Garten der Frauengruppe helfe. Gestern war ich bei ihr zu Hause, was gleichzeitig ihr Atelier ist und habe mit ihr Ohrringe und Armbänder gebastelt. Sie hat mir viel erzählt. Über ihre Familie, ihre vier Kinder (zwischen 6 und 20), ihre Eltern, die sich vor 13 Jahren getrennt haben, aber trotzdem noch 11 Jahre lang im gleichen Haus lebten bis ihr Vater vor 1,5 Jahren an Krebs gestorben ist. Ihr Mann, der sie vor 6 Jahren – nach der Geburt des vierten Kindes – verlassen hat und seitdem unauffindbar ist, weshalb sie auch keine Kohle beanspruchen kann. Von ihren Geldsorgen, da die staatliche Unterstützung nicht ausreicht, die sie für die Kinder bekommt. Von der Privatschule mit Berufsausbildung, auf die die beiden ältesten trotz all dem gehen können – dank dem Programm der Schulpatenschaften, das Longo Mai betreibt (für 200€ jährlich kann sich jede/r daran beteiligen) . Von den 25 Dollar Arbeitslosengeld monatlich, das sie nur für drei Monate bekam, weil sie in der Zeit keinen Job gefunden hat und das auch schwierig ist, da sie ja an Longo Mai gebunden ist, hier noch zwei Kinder zu versorgen hat und das doch etwas abseits liegt. Von der guten Zeit der Kaffee-und Zuckerrohrernte (etappenweise zwischen Oktober und April), weil sie da viel arbeiten kann und vom anderen Halbjahr, wo sie versucht mit ihrem Kunsthandwerk ein bißchen Kohle reinzubringen. Außerdem ist sie eine oder die Hauptinitiatorin für das Projekt: Grupo de Mujeres und dem daraus entstehenden Garten. Das Ziel ist möglichst viel Früchte anzupflanzen, daraus Marmelade zu machen, die zu verkaufen und somit wieder eine Einkommensquelle zu haben. Weiters werden aber auch Gemüse und Kräuter gepflanzt und nach Möglichkeit verkauft. Citronella dient der Reinigung, Don Pedrino ist eine verdaungsfördernde Pflanze – in Wasser gerieben trinken, nach 20 Minuten kommt alles raus! Maritza schwört darauf.

Von Dona Edith werden wir gut versorgt: Frühstück, Mittag-und Abendessen sind im Preis inbegriffen und sogar unsere Wäsche wird mitgewaschen. Reis und Bohnen sind verdammt nahrhaft und sättigend, weshalb wir bereits nach dem ersten Tag dankend auf das Mitagessen verzichten. Dazu gibt’s entweder Spiegelei, Huhn, Yuccablütengemüse oder Schwein :-).

Wir unternehmen Wanderungen und Spaziergänge, erkunden die Kaffeefelder und Zuckerrohplantagen, plantschen im Fluss, Schaukeln im Stuhl oder hängen in der Matte. Ich mache noch einen Ausflug zur Finca Pasiflora und lasse mir von dem netten Besitzer anhand seiner Wasserversorgung und Fischzucht zeigen, was ein ökologisch nachhaltiger und geschlossener Kreislauf ist. Außerdem erfahre ich mehr über das Leben einer Bananenstaude (allein bei ihm wachsen 40 verschiedene Arten) und lasse mir erklären, welche Art es nach Europa schafft und welche nicht. Es gibt eine Verkostung diverser getrockneter Bananen, die ich – nicht gerade bekannt als Obstliebhaberin – alle himmlisch finde und ich bewundere die Ansammlung von Orchideen, die hier wachsen und gedeihen (in Costa Rica gibt es 1.300 Arten). Obwohl ich an diesem Tag ziemlich mies gelaunt war, weil wir keine Zigaretten mehr hatten, bin ich nach dem Besuch dieser Finca wieder total belebt und erfüllt. Trotzdem habe ich nichts dagegen, als mein Heroe am Abend mit Zigaretten daher kommt. Wir lernen noch ein paar Leute kennen und fühlen uns überall sehr wohl. An unserem letzten Abend sind wir bei Christoph und Zsuzsanna zum Aperó eingeladen und bekommen einen sehr guten Ron con Naranja. Am letzten Tag lernen wir noch Roland Spendlingwimmer und seinen Sohn Jiri kennen, die anlässlich der Versammlung auch vor Ort sind, ansonsten mittlerweile in San Isidro leben. Roland ist ein Urlongomaianer und wäre das Ganze nicht basisdemokratisch organisiert und würde es eine Hierarchie geben, wäre er wohl so was wie der Obermotz. Ich freue mich, dass ich ihn kennen lerne, denn ich habe ihm schon 1999 ein Mail geschrieben, dass ich zu ihnen kommen möchte. Die zwei sind so nett und nehmen uns nach der Versammlung mit nach San Isidro, wo wir noch zwei Nächte bleiben, um das Zirkusprojekt kennen zu lernen, das Roland betreut. Es soll Kindern und Jugendlichen einen Ausstieg und eine Alternative zum Straßenleben und Slum-Dasein bieten und klingt sehr vielversprechend. Montags ist immer Probe im Theater und wir dürfen zu schauen. Leider stellt sich aber heraus, dass die Probe diesmal nicht stattfindet, was uns sehr leid tut. Roland zeigt uns deshalb die Zentrale des Projekts und wir hoffen die Zirkustruppe einmal in Tirol zu sehen, denn sie begeben sich immer wieder auf Europatournee. Das nächste Mal im Herbst 2013, wo wir voraussichtlich noch unterwegs sein werden. Deshalb ein Aufruf an euch alle, die Gelegenheit nicht zu verpassen! Tourdaten werden noch bekannt gegeben, Infos gibt’s unter www.vida-nueva.co.cr.

Sollte jemand noch mehr über Longo Mai wissen wollen: http://www.sonador.info

Wer bis hier durchgehalten hat, gratuliere! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!